In Gedenken an Marwa El-Sherbini
Heute ist der Tag gegen antimuslimischen Rassismus. Seit 2015 soll am 1. Juli auf das drängende Problem der Muslimfeindlichkeit und der damit verbundenen Diskriminierung aufmerksam gemacht werden. Ein Tag im Jahr für ein trauriges Phänomen, dass für so viele Betroffene ein alltägliches Martyrium darstellt.
Wir vom NIR wollen den heutigen Aktionstag nutzen, um dem gesamtgesellschaftlichen Problem gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen und von antimuslimischen Rassismus im Besonderen die längst überfällige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Doch warum wurde genau dieser Tag dafür gewählt?
Heute vor 10 Jahren – am 1. Juli 2009 – wurde Marwa El-Sherbini im Landgericht Dresden ermordet.
Das Motiv: Der Hass des Täters auf Muslim_innen!
Wie konnte es zu diesem Attentat kommen?
Die Pharmazeutin und ehemalige ägyptische Handballnationalspielerin Marwa El-Sherbini zog 2005 mit ihrem Mann, dem Genforscher Elwy Ali Okaz, aus Alexandria nach Bremen. Im Jahr 2008 erhielt Elwy eine Forschungsstelle am Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik, woraufhin das Ehepaar mit ihrem 2-jährigen Sohn Mustafa nach Dresden zogen. Marwa arbeitete in jener Zeit im Rahmen eines Akkreditierungsprogrammes in einer lokalen Apotheke und im Universitätsklinikum Carl Gustav Carus. Im darauffolgenden Jahr sollte Elwy Ali Okaz seine Anstellung an der Minufiya-Universität in Schibin al-Kaum weiterführen und dafür nach Ägypten zurückkehren. Doch die geplante Rückkehr der Familie nach Ägypten durfte Marwa nicht mehr miterleben.
Am 21. August 2008 besuchte Marwa mit ihrem Sohn Mustafa einen Spielplatz in Dresden-Johannisstadt, wo sich auch ihr zukünftiger Mörder Alexander W. mit seiner Nichte aufhielt. Mustafa äußerte den Wunsch zu schaukeln. Noch wurden die beiden Schaukeln des Spielplatzes von W. mit seiner Nichte besetzt. Marwa bat W. darum, ihren Sohn auf die Schaukel zu lassen. Das reichte offenbar W., in eine menschenfeindliche Hasstirade zu verfallen. Nicht nur drohte er Mustafa mit den Worten: „Wenn er schaukeln will, werde ich ihn zu Tode schaukeln.“ Er beschimpfte auch Marwa als „Terroristin“, „Islamistin“ und „Schlampe“. Umstehende versuchten die Situation zu entspannen – ohne Erfolg. Schließlich rief Marwa mit dem Handy einer anwesenden Person die Polizei, welche nur wenige Minuten später erschien.
Auf der Dienststelle unterschrieb Marwa nicht nur, wie sie offenbar dachte, ihre Zeugenaussage, sondern gleich eine Anzeige gegen W. Dieser wurde, auch dank der mit Marwas Erleben übereinstimmenden Aussagen der Zeugen, zu einer Geldstrafe von 330 € verurteilt. Der Staatsanwaltschaft focht das Urteil als zu milde an. Auf der anderen Seite war sich W. keiner Schuld bewusst, weigerte sich, die Strafe zu zahlen und ging gegen das Urteil in Berufung.
Die Verhandlung vor dem Dresdner Landgericht wurde für den 1. Juli 2009 anberaumt.
Da Marwas Aussage bereits schriftlich vorlag, hätte sie an jenem Tag eigentlich gar nicht zu Berufungsverhandlung erscheinen müssen. Einer der ehrenamtlichen Schöffen forderte allerdings, Marwa erneut vorzuladen und somit noch einmal jenem Mann zu begegnen, der sie im Jahr zuvor mit so viel Hass verbal attackiert hatte.
Um seine Frau bei diesem schwierigen Termin zu unterstützen, nahm sich Elwy Ali Okaz am 1. Juli frei und begleitete Marwa, die zu dem Zeitpunkt im dritten Monat schwanger war, ins Landgericht Dresden. Mustafa fühlte sich an dem Tag unwohl, weshalb ihn seine Eltern mit sich ins Gericht nahmen.
W. war sich bei seiner Aussage weiterhin keinerlei Schuld bewusst. Schon vor dem Verhandlungstermin schrieb er einen Brief ans Gericht, in dem er sein rassistisches und islamfeindliches Weltbild beschrieb. Im Zeugenstand betonte er seine Auffassung, dass Menschen, wie Marwa, als „Monster“ kein Anrecht darauf hätten, in hier zu leben.
Nach seiner Aussage verweilte W. vor dem kleinen Nebensaals des Landgerichts. Durch die damalige räumliche Anordnung von Zeugenstand und Anklagebank, waren Marwa, ihr Mann und ihr Sohn daher gezwungen, nach Marwas Zeugenaussage direkt an W. vorbeizulaufen. Dieser nutzte den Moment, als Marwa nach ihrer Zeugenaussage den Saal verlassen und ihn passieren musste, und zog sein japanisches Kampfmesser, dass er für diesen Anlass mit sich führte. Er stach kaltblütig auf Marwa ein. 18 Mal stach er zu – vor den fassungslosen Augen ihres Sohnes. Elwy eilte seiner Frau zur Hilfe und stürzte sich auf W., wobei auch er durch drei Messerstiche vom Mörder seiner Frau lebensgefährlich verletzt wurde. Ein zu Hilfe gerufener Bundespolizist nahm seine Dienstpistole und feuerte einen Schuss ab – auf Elwy Ali Okaz. Während Elwy durch die zerschossene Aorta in seinem Bein ins Koma fiel, verblutete seine Frau Marwa noch an Ort und Stelle.
Zu Beginn des Attentats verließen alle Prozessbeteiligten fluchtartig den Tatort. Sie überließen damit Marwa ihrem schrecklichen Schicksal. Selbst der drei-jährige Mustafa wurde von keinem der Flüchtenden in Sicherheit gebracht. Er war gezwungen, dass grausame Attentat auf seine Mutter und ihren Todeskampf mitanzusehen.
Auch heute, zehn Jahre nach diesem schrecklichen Attentat, bleiben zahlreiche Fragen unbeantwortet:
Warum wurde Marwa gezwungen, nicht nur dem Mann, der ihr Mörder werden sollte ein zweites Mal zu begegnen, sondern ihn sogar ohne jeglichen Schutz zu passieren?
Wie konnte der Mörder ein Messer in den Gerichtssaal bringen – und dass, obwohl er vorher seinen Islamhass und seinen Willen, diesen tätlich umzusetzen explizit äußerte?
Warum wurde das offensichtliche Motiv – der Hass auf die islamische Religion und allen Gläubigen – so lange versucht, öffentlich als Disput zwischen zwei Minderheiten (W. ist Russlanddeutscher) zu relativieren, statt das Problem der Islamfeindlichkeit zu benennen und zu problematisieren?
Warum wurde die berechtigte Frage, ob der Polizist, der Elwy mit einem gezielten Beinschuss verletzte, eventuell aufgrund antimuslimischer Vorurteile auf den falschen Mann schoß, so vehement abgeschmettert?
Warum gibt es auch 10 Jahre nach diesem schrecklichen Mord, zahlreichen Brandanschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte, zahllosen tätlichen Überfällen auf vermeintlich muslimisch aussehende Mitbürger_innen noch immer keine Expert_innenkommission, die sich dem der drängenden Problematik des antimuslimischen Rassismuses auf struktureller wie individueller Ebene auseinandersetzt?
Wir stehen heute hier, um klar und deutlich zu sagen: Die deutsche Gesellschaft hat ein gewaltiges Problem – und das heißt: Antimuslimischer Rassismus! Wir wollen nicht länger hinnehmen, dass Mitbürger_innen durch gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Stereotype daran gehindert werden, ihr Leben nach ihren individuellen Vorstellungen frei gestalten zu können. Und erst recht wollen und können wir nicht mehr hinnehmen, dass unsere Mitbürger_innen aufgrund undifferenzierter Vorurteile, irrationaler Ängste und blindem Hass um die grundrechtlich gesicherte Unversehrtheit ihres Körpers oder gar um ihr Leben fürchten müssen.
Wir vom NIR betonen einmal mehr, was jeder und jedem spätestens nach dem Attentat auf Marwa El-Sherbini klar sein müsste: Rassismus ist keine bloße Meinungsäußerung! Rassismus tötet!